Von der Schule über das Berufsleben bis hin zum Seniorenheim: Immer mehr Menschen werden systematisch ausgegrenzt, häufig psychisch, manchmal auch körperlich verletzt. Doch längst nicht jeder Streit bedeute gleich Mobbing, beschwichtigt Agnes Jänsch, Psychologin beim Evangelischen Beratungszentrum München und auf Schulthemen spezialisiert. Mobbing meint nicht den einmaligen Krach zweier Freundinnen, sondern es betrifft die ganze Klasse. Immer und immer wieder.
Die Rollenverteilung ist dann wie in einem Film: Ein, zwei Schülerinnen oder Schüler haben sich ein, zwei Opfer ausgesucht, andere, die sogenannten „Bystander“, schauen zu, wiederum andere treten als Claqueure hervor. Schuld daran sei auch der steigende Druck, dem bereits die Jüngsten ausgesetzt sind, ergänzt Eva Wimmer, ebenfalls Psychologin des Beratungszentrums. Schätzungen sprechen von jedem siebten bis zehnten Schüler, der irgendwann in seiner Schulkarriere zum Opfer wird. Dabei stimmt vor allem eine Entwicklung nachdenklich:
Mobbing gab es zwar auch früher schon, eigentlich immer dann, wenn Menschen in Gruppen zusammenleben. „Am häufigsten in Schulen und Gefängnissen“, sagt Wimmer, denn aus diesen Situationen „kommt man nicht so einfach weg“. Bedenklich ist für die vier Mitarbeiterinnen des Beratungszentrums aber vor allem, dass Mobbing jetzt vermehrt bereits in der Grundschule vorkommt. Und dass die wenigsten Lehrerinnen und Lehrer darauf vorbereitet sind.
BERATUNG STATT THERAPIE
Wenig Zeit und eine gewisse Hilflosigkeit aufgrund mangelnder Fortbildung zum Thema Mobbing – das sind die Hauptgründe, warum Schulen häufig überfordert sind. Und sich in erster Linie verzweifelte Eltern an die Beratungsstelle wenden, weil weder die Klassenlehrerin noch die Schulleitung eine Lösung wusste. An einem unscheinbaren Ort, im vierten Stock eines multikulturell genutzten Hauses in der Münchner Bahnhofs-„Bronx“, stehen die Psychologinnen dann nicht nur Eltern und ihren gemobbten Kindern, sondern auch Lehrerinnen und Lehrern mit Rat und Tat zur Verfügung. Keine Therapie, sondern beratende Gespräche, von der Anti-Mobbinggruppe für Neun- bis Zwölfjährige bis hin zu Einzelterminen – mit Schülern, Eltern oder Lehrern.
„Das sehr impulsive und emotionale Verhalten unseres Sohnes, verbunden mit einer Unfähigkeit der Schule, mit der Situation umzugehen, hat uns veranlasst, eine Beratungsstelle zu kontaktieren“, beschreibt Paul Drechsler (Name von der Redaktion geändert) die Gründe für seinen Weg in das Beratungszentrum. Umso überraschter waren er und seine Frau von der Tiefe der Gespräche, „sehr freundlich, sehr kompetent, sehr auf den Punkt“. Besonders nützlich war der besorgten Familie, dass ihr konkrete Hinweise gegeben wurden, „wie wir mit der für uns schwierigen Situation umgehen können. Und es wurden Empfehlungen ausgesprochen, hinter denen Erfahrungen standen, die man so als Laie eben nicht zur Hand hat und so auch nicht im Internet findet.“
PSYCHOLOGISCHE INFORMATION UND BERATUNG FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER, ELTERN UND LEHRKRÄFTE (PIBS)
Die Anti-Mobbing-Beratung ist ein Arbeitszweig des Evangelischen Beratungszentrums München e. V. Speziell ausgebildete Psychologinnen und Psychologen beraten bei Fragen rund um das Thema Mobbing, Konflikte und Ausgrenzung sowie bei Beziehungsproblemen und Konflikten mit den Lehrkräften. Neben Einzel- und Familiengesprächen gibt es auch ein Beratungsangebot für Lehrende und eine regelmäßige Mobbinggruppe für Schülerinnen und Schüler ab neun Jahren.
Zusätzlich bietet das Team auch Lerncoachings für Geflüchtete an und ist zertifiziert für Problemfälle bei Kindeswohlgefährdung.
AUSTAUSCH MIT DEN ELTERN
„Dann bis nächste Woche.“ Die freundliche Stimme gehört Eva Heidingsfeld, der „guten Seele“ des Beratungszentrums. Bei ihr laufen die Anfragen telefonisch ein: besorgte Eltern, verzweifelte Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler in Not. Möglichst schnell bekommen sie dann einen Termin, in der Regel innerhalb eines Monats.
Rufen Kinder von sich aus an, klappt es wesentlich schneller. Selbstverständlich sichern die Psychologinnen jedem jungen Mobbingopfer zu, „nichts von dem mit den Eltern zu besprechen, was das Kind mir erzählt“, erklärt die Leiterin der Gruppe, Ursula Stolberg.
Manchmal laden sie die Eltern auch zu einem gesonderten Gespräch ein, um das Problem aus der Erwachsenenperspektive zu besprechen und Lösungen für die Familie zu erarbeiten.
Dabei kooperieren sie beim Thema Mobbing eng mit der „Brücke“, einer Jugendhilfeeinrichtung in München. Anders als die Kolleginnen des Beratungszentrums geht das Brücke-Team auch direkt in die Klassen, häufig allerdings nach Hinweisen von der Beratungsstelle. Die Psychologinnen der Kirche haben dafür „leider“, wie sie sagen, aus Kapazitätsgründen keine Zeit. „Wir sind nie in der Situation, dass wir jemandem erklären müssen: Du hast ein Problem. Sondern die Leute kommen zu uns und sagen, es gibt ein Problem, könnt ihr uns helfen?“, fasst Stolberg den Auftrag ihres Teams zusammen. Schritt für Schritt wird dann versucht, dem Mobbing auf den Grund zu gehen.
Ab einem bestimmten Punkt, da sind sich die Expertinnen sicher, kommt niemand ohne Hilfe aus der Erniedrigungsspirale raus.
Wenn sie überhaupt rechtzeitig erkannt wird: Kinder verheimlichen aus Scham sehr gut, wie stark sie leiden. Häufig fallen die Eltern dann aus allen Wolken, wenn sie viel zu spät etwas davon mitbekommen. Aus Wegschauen und Nicht-wahrhaben-Wollen besteht hingegen das Verdrängungsrepertoire von vielen, häufig überlasteten Lehrerinnen und Lehrern – und die sollten es eigentlich besser wissen. Manche Schulen lehnen das Engagement der Psychologinnen gar kategorisch ab. Allerdings gibt es auch die, die froh sind über das Angebot der Beratungsstelle, die ihre Lehrkräfte zu Coachings und Fortbildungen ermuntern, manchmal sogar in den eigenen Räumen. „Wir haben uns sehr gut ergänzt“, sagt Lehrerin Clara Heuberger, die auch in anderen Zusammenhängen mit Rat und Tat unterstützt wurde.
Und Lisa Domke (Name von der Redaktion geändert), Mutter eines Jungen, der zurückgestellt werden sollte, ergänzt: „Wirklich überrascht war ich, wie gut das Team der Psychologinnen unseren Sohn in dieser kurzen Zeit ‚erkannt’ hat. Wir waren beeindruckt von der professionellen und umfangreichen Einschätzung, was seine Schulreife angeht.“
SICH HELFEN LASSEN
Wie wichtig es ist, sich rechtzeitig und professionell um etwaige Mobbingopfer zu kümmern, zeigen aktuelle Zahlen: 20 bis 25 Prozent aller betroffenen Kinder haben im Erwachsenenalter zum Teil mit schweren psychischen Belastungen zu kämpfen, „also Depressionen oder Angststörungen“, weiß Stolberg. Doch sollten vor allem die Eltern nicht den Fehler machen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, warnt Agnes Jänsch. Wer die Mutter eines Mitschülers anruft und sich bei ihr über dessen Mobbingverhalten beschwert, muss damit rechnen, dass dieser seine Aktionen noch verschärft. „Das fällt einem in der Regel auf die Füße. Und das Mobbing eskaliert dann noch.“
KONTAKT
Evangelisches Beratungszentrum München e. V.
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Tel.: 089-59048 170
pibs@ebz-muenchen.de
Telefonische Erreichbarkeit für Anmeldungen:
Mo, Di, Do: 11.00 – 12.30 Uhr
Mo bis Do: 13.30 – 15.30 Uhr
MOBBING? WAS MAN DAGEGEN TUN KANN.
„Mobbing muss da gelöst werden, wo es passiert. Es gilt also, zunächst Kontakt mit der Schule aufzunehmen, kooperativ, und nicht gleich anklagend. Wichtig ist dann, mit der ganzen Klasse zu arbeiten, Betroffenheit bei den Beteiligten hervorzurufen und herauszuarbeiten, wie man sich gegenüber Mitschülern verhalten darf und wie eben nicht.
Bei weniger schweren Mobbingfällen hat es sich zunächst bewährt, schulintern ein gezieltes Gespräch mit dem Opfer zu führen und Täter wie neutrale Schüler zur Unterstützung bei der Verbesserung seiner Situation in der Klasse zu gewinnen, ohne Schuldzuweisungen oder Strafandrohungen („No Blame Approach“); bei schwereren Fällen greift man am besten auf Fachkräfte von außen zurück. Und: Es braucht auf jeden Fall ganz viel Nachsorge, mehrere Sitzungen, bis zu sechs Monate lang.“
Eva Wimmer, Psychologin